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Zwei-Klassen-Medizin ist Realität

VON STEFAN SAUER
Kölner Stadt Anzeiger vom 10.04.2006

„Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschliesslich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.“

(Artikel 25, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948)

Am 6. Juni 1973 trat das „Gesetz zum Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Charta der Vereinten Nationen“ in Kraft. Daraus leitet sich unmittelbar das Menschenrecht auf gesundheitliche Versorgung ab, und zwar unabhängig von „sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“, wie es in Artikel 2 heisst. Ebendiese Unabhängigkeit von finanziellen und ständischen Voraussetzungen scheint in Gefahr zu geraten. Jedenfalls häufen sich seit einigen Jahren Warnungen von Ärztevereinigungen, Krankenkassen, politischen Parteien und Sozialverbänden vor einer „Zwei-Klassen-Medizin“ in Deutschland.

Die Sorge fusst auf unabweisbaren Fakten: Einerseits ist der medizinische Fortschritt enorm, aber auch enorm teuer. Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt kontinuierlich an und wird 2050 um fünf Jahre über der heutigen (81,5 Jahre für Frauen, 75,9 Jahre für Männer) liegen. Im gleichen Zeitraum nimmt die Zahl berufsfähiger Menschen wegen des Kindermangels dramatisch ab. Hieraus erwachsen offensichtliche Gefahren. Das materielle Vermögen des Einzelnen könnte zur entscheidenden Voraussetzung für den Zugang zu hochwertiger Gesundheitsversorgung werden. Weniger Betuchte stürben früher, weil das Geld für die Behandlung fehlt.

KLASSENUNTERSCHIEDE

Anderseits ist eine Klassengesellschaft im Gesundheitswesen durch die Trennung von privater und gesetzlicher Krankenversicherung schon heute Wirklichkeit. Sie ist von einer auf Kostendeckelung konzentrierten Praxis bedingt. Sie findet Ausdruck in sozial geschichteten, unterschiedlichen Erkrankungshäufigkeiten und Lebenserwartungen.

Die Idee einer wechselseitigen Absicherung im Krankheitsfall hat ihren Ursprung in den mittelalterlichen Zünften und Gilden, die von ihren Mitgliedern finanzierte „Hilfsfonds“ anlegten. 1848 wurde für die Beamten des Berliner Polizeipräsidiums die erste private Krankenversicherung gegründet – 35 Jahre, bevor mit der Sozialgesetzgebung Bismarcks die gesetzliche Krankenversicherung entstand. Das Wesen der Privaten Krankenversicherung (PKV) beruht also im Ursprung auf dem Solidaritätsgedanken.

Davon ist nicht viel übrig. Bei den heute acht Millionen PKV-Versicherten in Deutschland handelt es sich um einen ziemlich exklusiven Club. Neben vermögenden Privatiers gehören ihr Selbständige, Freiberufler und Beamte an (die selbstverständlich nicht alle reich sind, im Gros aber überm Durchschnitt lie gen). Hinzu kommen abhängig Beschäftigte mit höheren Einkommen. Wer von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu einer Privatkasse wechseln möchte, muss oberhalb der „Versicherungspflichtgrenze“ von derzeit 47 250 Euro pro Jahr verdienen. Der grosse Rest – 72 Millionen Deutsche sind bei einer gesetzlichen Kasse versichert – bleibt aussen vor.

KLASSENUNTERSCHIEDE

Privatpatienten geniessen bevorzugte Behandlung. Sie müssen kaum in Wartezimmern ausharren. Der Nächste, bitte, ist immer der Privatpatient. In der Klinik kommt der Chef höchstpersönlich zur Visite. Die Vorzugsbehandlung hat einen banalen Grund. Die Mediziner können für ihre den Privatversicherten gewidmete Hingabe ein Mehrfaches des für GKV-Mitglieder festgeschriebenen Satzes berechnen. Man ist daher zuvorkommend. Man verordnet Arzneien, Heilmittel, seelische Helferlein, deren Erstattung von gesetzlichen Kassen abgelehnt würde.

Nun wären Wartezeiten für gesetzlich Versicherte hinzunehmen, sofern nicht auch die Qualität der medizinischen Versorgung betroffen wäre. Beunruhigenderweise ist das aber der Fall. Demenzkranke werden in Fachkliniken mit hoch dosierten Medikamenten ruhig gestellt, um eine baldige Rückführung in die häusliche Umgebung zu ermöglichen. Das spart Kosten – und langwierigere Therapien, die oft bessere Erfolge zeitigen würden. Vor einigen Wochen wurde der Fall eines lebensgefährlich verletzten Unfallopfers publik, das viele Sunden lang im Rettungswagen von einer zur nächsten Notaufnahme gekarrt wurde. Die Kliniken verweigerten die Aufnahme, weil sie die hohen Behandlungskosten scheuten. Privatpatienten bleiben solche Erfahrungen erspart.

SOLIDARITÄT PARADOX

Auch dem viel beschworenen Solidaritätsgedanken läuft die Trennung von PKV und GKV zuwider. Warum kann das aus einkommensabhängigen Beiträgen finanzierte GKV-System ausgerechnet von jenen verlassen werden, die zum solidarischen Mittun am ehesten in der Lage wären? Warum zahlt Lieschen Müller an der Aldi-Kasse zwangsweise in die GKV, während der Regionalleiter zu einem Privatversicherer wechseln kann? Das zweigliedrige System mag historisch gewachsen sein. Auch haben Elemente der PKV wie Altersrückstellungen und Wahlfreiheiten Sinn und sollten in der GKV eingeführt werden. Doch eine Fortschreibung des Zwei-klassensystems lässt sich damit nicht legitimieren.

MACHT ARMUT KRANK?

Ja, glaubt die politische Linke und verweist auf Statistiken. Tatsächlich ist ein Zusammenhang zwischen verfügbarem Einkommen und sozialem Status auf der einen und Erkrankungshäufigkeiten und Lebenserwartung auf der anderen Seite erkennbar. Die Schlussfolgerung greift dennoch zu kurz. Auch Arbeitslose und Sozialgeldempfänger sind versichert und von Zuzahlungen weitgehend befreit. Die Belastungen durch Schadstoffe und Lärm am Arbeitsplatz sind in den vergangenen 30 Jahren erheblich zurückgegangen. Maschinen erledigen einen Grossteil der Tätigkeiten, die einst mit harten körperlichen Anforderungen verknüpft waren. Die These „arm mach krank“ negiert aber nicht nur diese Veränderungen, sie blendet vor allem die Selbstverantwortung der „kranken Armen“ aus.

Wider besseres Wissen und von keiner öffentlichen Kampagne erreichbar besuchen Angehörige der unteren sozialen Schichten kaum noch Sportvereine, wiewohl deren Mitgliedschaft jenseits von Hockey, Tennis und Golf durchaus finanzierbar ist. Eltern schicken ihre Kinder nicht zu medizinischen Vorsorgeuntersuchungen. Sie meiden den Zahnarzt. Sie kochen nicht preiswert und gesund, sondern ernähren sich fett- und zuckerlastig. Sie animieren ihre Kinder nicht zu körperlicher Ertüchtigung. Sie wandern nicht, schwimmen nicht und selbst Fussballspielen ist zu einem Abiturientenvergnügen geworden. Auch das belegen Statistiken.

Die Forderung nach gesundheitsbewusster Lebensführung wird von Angehörigen dieser Schicht als Zumutung empfunden. Daher muss das zentrale sozialstaatliche Anliegen scheitern, allen Menschen gleichen Zugang zu Bildungs- und Versorgungseinrichtungen zu garantieren, um so dem Individuum die Selbstbefähigung zu ermöglichen.

Die institutionalisierte Zwei-Klassen-Medizin ist nicht zukunftsfähig und legitimierbar. Freier Kassenwettbewerb zu gleichen Bedingungen könnte Abhilfe schaffen. Doch ebenso wenig wird das Gesundheitswesen Bestand haben, wenn der Sozialstaat nicht umsteuert und klare Forderungen stellt. Wer Vorsorgeangebote nicht nutzt und seine Kinder (auch) gesundheitlich vernachlässigt, muss sanktioniert werden.

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