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Kulturelle Verdrängung

Forscher: Ins Unbewusste abgeschobene Traumata sind eine Erfindung der vergangenen zweihundert Jahre

Die Vorstellung verdrängter traumatischen Erinnerungen existiert erst seit etwa zweihundert Jahren, glauben amerikanische Wissenschaftler. Ihr Argument: Vor dem Jahr 1800 gibt es keine einzige Beschreibung eines Falls, bei dem sich ein ansonsten geistig klarer Mensch jahrelang nicht an ein einzelnes traumatisches Erlebnis erinnern kann. Das gilt sowohl für die Fach- und Sachliteratur als auch für Romane, Erzählungen oder Gedichte. Erinnerungen zu verdrängen ist demnach wahrscheinlich kein biologisch-neuropsychologischer Mechanismus, sondern ein Produkt der modernen westlichen Kultur, schliessen die Psychologen und Literaturwissenschaftler um Harrison Pope daraus. Das heisse jedoch nicht, dass eine derartige Störung nicht behandelt werden müsse, betont Pope.

Schon früher war Pope und seinen Kollegen aufgefallen, dass es zwar immer schon Berichte über Depressionen, Angststörungen, Wahnvorstellungen, Halluzinationen oder Demenz in der Literatur gab, die Symptome einer dissoziativen Amnesie, wie die verdrängten Erinnerungen auch genannt werden, jedoch nicht vor dem 19. Jahrhundert beschrieben wurden. Eines der ersten Beispiele dafür ist Dr. Manette, der in Charles Dickens 1859 erschienenem Roman „Eine Geschichte zweier Städte“ die Erinnerung an seine Gefangenschaft in der Bastille verdrängt, und auch der Hauptdarsteller in Rudyard Kiplings „Die mutigen Kapitäne“ von 1897, der vergisst, dass er seine Familie während einer Flut verloren hat.

Um das Auftauchen solcher Beschreibungen zeitlich genauer einzugrenzen, griffen die Forscher zu einem ungewöhnlichen Mittel: Sie platzierten auf mehr als dreissig Internetseiten und in grossen Magazinen Anzeigen, in der sie jedem eine Belohnung von tausend US-Dollar versprachen, der eine vor dem Jahr 1800 veröffentlichte Beschreibung einer verdrängten Erinnerung findet. Das Ergebnis war jedoch ernüchternd: Zwar gab es mehr als hundert Einsendungen, doch handelte es sich dabei lediglich um Berichte über normale Vergesslichkeit, Amnesie als Folge von Verletzungen oder Krankheiten, eine bestimmte Art der Epilepsie mit kurzen Perioden von Bewusstlosigkeit oder Fälle von Delirium. Keine einzige Quelle habe einen Fall beschrieben, in dem sich das Vergessen ausschliesslich auf ein einzelnes, traumatisches Ereignis bezog, so die Forscher.

Für Pope und seine Kollegen ist das Fehlen einer solchen Beschreibung ein eindeutiger Beweis dafür, dass es diese Art der Amnesie vor 1800 nicht gab und sie daher wohl nicht auf eine biologisch-neurologische Störung zurückgeht. Wahrscheinlich, so ihre These, habe sie sich entwickelt, als in der Psychologie das Konzept des Unbewussten und damit die Vorstellung entstanden, der Geist könne sich durch das Verbannen von Schrecklichem ins Unbewusste schützen. Sollte sich das bestätigen, müssten Fälle von Verdrängung besonders im Hinblick auf Gerichtsverfahren neu bewertet werden, so Pope.

Nature, Online-Dienst

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