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Auch mit Darmkrebs gut leben

Wenn der Darmkrebs sich für den Patienten bemerkbar macht, ist es oft zu spät für eine Heilung. Ziel der Medizin ist es dann, das Wachstum des Tumors und seiner Metastasen möglichst lange aufzuhalten und dem Patienten so Lebenszeit und -qualität zu verschaffen – und das möglichst ohne den Einsatz von Zellgiften, die auch gesunde Zellen angreifen. Ansatzpunkt neuer Strategien gegen den Darmkrebs ist das körpereigene Hormon Gastrin, das über bestimmte Rezeptoren das Wachstum der Krebszellen anregt.Darmkrebs ist in Deutschland die zweithäufigste tumorbedingte Todesursache beim Mann und bei der Frau (Abb. 1 u. 2). Jedes Jahr sterben etwa 30.000 Menschen an einem fortgeschrittenen Darmkrebsleiden (s. Info S.53,56,60). Wenn der Patient erste Symptome bemerkt – z. B. sichtbares Blut im Stuhl, häufige Verstopfungen, Schmerzen oder einen vollständigen Darmverschluss, weil die Grösse des Tumors den Durchmesser des Dickdarms erreicht hat -, ist es für eine Heilung meistens schon zu spät: Der Darmkrebs lässt sich durch eine Operation nicht mehr vollständig entfernen, weil er längst Absiedelungen im ganzen Körper gestreut hat. Um das Wachstum dieser tödlichen Metastasen aufzuhalten, werden Chemotherapeutika eingesetzt, die jedoch den Fortschritt der Erkrankung nicht stoppen, sondern nur verlangsamen können. Die Nebenwirkungen der Chemotherapie können ausserdem die Lebensqualität in der auf wenige Monate begrenzten Überlebenszeit weiter einschränken: Da die verabreichten Zellgifte auf alle Körperzellen wirken, sind Übelkeit, Erbrechen und Immunschwäche häufig. Ausserdem können Tumorzellen Resistenzen gegen Chemotherapeutika entwickeln.

Die Tücken der Chemotherapie

Angesichts dieser Grenzen der Therapie des fortgeschrittenen Darmkrebses suchen Forscher weltweit intensiv nach besser wirksamen und verträglichen Mitteln. Trotz viel versprechender Fortschritte in der chirurgischen Therapie sowie der Bestrahlungs- und Chemotherapie hat es in den letzten 30 Jahren nur eine geringe Verbesserung der Gesamtsterblichkeit bei Darmkrebs gegeben. Neue Forschungsansätze leiten sich aus dem molekularen Verständnis der Funktionsweise der Krebszelle ab. Das Ziel ist es, neue Therapieformen mit maximalem Effekt auf die Darmkrebszelle und minimaler Wirkung auf gesunde Körperzellen zu entwickeln, um bei fortgeschritten Erkrankten eine Lebensverlängerung, eine verbesserte Lebensqualität und weniger therapiebedingte Nebenwirkungen zu erzielen. Ein besonders viel versprechender Ansatzpunkt für neue Therapien ist das körpereigene Hormon Gastrin.
Gastrin wird nach der Nahrungsaufnahme von speziellen Zellen der Magenschleimhaut in die Blutbahn abgegeben und regt andere Zellen dazu an, Magensäure zu bilden. Die Magensäure tötet in der Nahrung enthaltene Keime ab und leitet den Verdauungsprozess ein. Zum Schutz vor einer Schädigung der Magenschleimhaut durch die Säure ist die Säurebildung stark reguliert, d.h. gering im Nüchternzustand und maximal zum Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme. Diese Regulation erfolgt zum einen über Magennerven und zum anderen über Hormone. Hierbei kommt dem Gastrin die zentrale Rolle zu.

Gastrin lässt Schleimhaut und Polypen wachsen

Gastrin existiert in verschiedenen molekularen Formen, da es aus einem grossen Vorläuferhormon durch verschiedene enyzmatische Spaltungen vom Körper weiterverarbeitet (prozessiert) wird. Es regt nicht nur die Säurebildung an, sondern ist auch ein starker Wachstumsfaktor für die Magen- und die Darmschleimhaut: Sowohl die Vorstufen des Gastrins als auch das vollständig prozessierte Hormon wirken hier wachstumsfördernd (trophisch). Deswegen steigern erhöhte Gastrinspiegel auch das Darmkrebsrisiko um das 2,3- bis 5,2-fache. Eine amerikanische Studie an 128.992 Patienten ergab, dass erhöhte Konzentrationen von Gastrin in der Blutbahn das Risiko für Darmkrebs über einen Zeitraum von ca. 30 Jahren um den Faktor 4 erhöhen.
Gründe für erhöhte Gastrinspiegel gibt es mehrere: In jüngster Zeit konnte z. B. belegt werden, dass entzündliche Erkrankungen der Magenschleimhaut durch eine Infektion mit dem Bakterium Helicobacter pylori mit einem signifikant erhöhten Darmkrebsrisiko einhergehen, weil es in der Folge dieser häufigen Erkrankung zu einer verstärkten Freisetzung von Gastrin aus der Magenschleimhaut kommt. Grund dafür ist, dass die Entzündung Zellen zum Absterben bringt, die die Gastrinfreisetzung hemmen. Und nicht nur der Magen kommt als Quelle für erhöhte Gastrinspiegel im Blut in Frage. Aufwändige Untersuchungen an Tumorgewebe aus dem Dickdarm ergaben jüngst, dass 80 bis 100 Prozent aller Darmtumoren selbst Gastrin produzieren und so ihr eigenes Wachstum unterhalten (autokrine Stimulation).

Tumore unterhalten ihr eigenes Wachstum

Gastrin ist ein Peptid, ein kurzkettiges Eiweiss, das seine wachstumsfördernden Effekte nur über die Bindung an ein bestimmtes Protein in der Oberfläche der Krebszelle, den sog. Rezeptor, vermitteln kann. Der Gastrin-Rezeptor, der in ganz spezifischer Weise das Gastrin-Molekül erkennt, wurde 1992 von der amerikanischen Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Alan Kopin an der Tufts University entdeckt. Wahrscheinlich gibt es aber weitere Gastrin-Rezeptoren für die unvollständig prozessierten Vorstufen des Gastrins, die ebenfalls das Wachstum von Darmkrebszellen deutlich stimulieren können. Das gegenwärtig akzeptierte Modell zerlegt das Gastrin-vermittelte Wachstum beim Darmkrebs in zwei Komponenten (s. Abb. 3):
Vollständig prozessiertes Gastrin, das entweder aus der Magenschleimhaut oder direkt aus dem Tumorgewebe stammt, stimuliert das Wachstum der Tumorzelle über den von Kopin entdeckten Gastrin-Rezeptor (Abb. 3A). Dieser Prozess kann durch Antikörper gegen Gastrin gehemmt werden, Pilotstudien dazu laufen derzeit. Aber nicht nur „reifes“ Gastrin, sondern auch Gastrin-Vorstufen wirken wachstumsfördernd auf die Dickdarmschleimhaut, und zwar nicht über den von Kopin entdeckten Rezeptor (Abb. 3B). Seit einer Veröffentlichung der französischen Forscherin Catherine Seva in der Fachzeitschrift Science 1994 über die starke wachstumsfördernde Wirkung von Gastrin-Vorstufen auch bei vollständiger Blockade des bekannten Rezeptors wird intensiv nach diesem Protein gesucht. Die Suche war jedoch bislang für alle beteiligten Arbeitsgruppen erfolglos.

Weltweite Fahndung nach dem Rezeptor

Es gab und gibt nur sehr wenige Untersuchungen zum Nachweis von Gastrin-Rezeptoren in Darmkrebsgeweben. Auch wir im Labor für molekulare Gastroenterologie der Ruhr-Universität waren beseelt von dem Gedanken, einen weiteren und neuen Gastrin-Rezeptor zu entdecken, nämlich denjenigen, dessen Existenz Catherine Seva 1994 postuliert hatte. Da sich immer mehr herauskristallisiert hatte, dass Gastrin am stärksten beim Darmkrebs und weniger stark beim Magen- oder Bauchspeicheldrüsenkrebs wachstumsfördernd wirkt, konzentrierten wir unsere Suche nach neuen Gastrin-Rezeptoren auf menschliche Darmkrebsproben. Aus Proben, die wir in der eigenen Endoskopie gewonnen oder von Kollegen im Rahmen von Darmkrebsoperationen bekommen hatten, bauten wir eine Tumorbank auf. Dann untersuchten wir zunächst systematisch die Schleimhautproben von 79 Patienten mit Darmkrebs und 15 gesunden Kontrollpatienten auf Gastrin-Rezeptoren mittels Polymerase-Kettenreaktion (PCR).
Wir konnten erstmals zeigen, dass der von Kopin und Mitarbeitern entdeckte Gastrin-Rezeptor zu einem viel höheren Prozentsatz in Darmkrebsgewebe nachweisbar ist als in gesunden Darmgeweben. Er wurde bei 30 der 79 Kolonkarzinom-Proben nachgewiesen, aber nur in zwei von 15 Kontrollgeweben (Tab. 1). Ausserdem ist auch das Hormon Gastrin selbst in viel höherem Prozentsatz in Krebsgewebe nachweisbar: Es war in 35 von 79 Karzinomgeweben und ebenfalls in nur zwei von 15 Kontrollgeweben vorhanden (Tab. 2). Dieses Ergebnis stützt die Hypothese des sich selbst unterhaltenden Wachstums einer Krebszelle. In einem Drittel aller Tumorgewebe liessen sich sowohl Gastrin als auch sein Rezeptor nachweisen, nicht aber in einem einzigen gesunden Kontrollgewebe.
Als nächstes nahmen wir eine umfangreiche DNA-Sequenz-Analyse aller Tumorgewebe vor. Die Analyse der Gastrin-Rezeptoren aus den Darmkrebsgeweben unserer Tumorbank brachte eine wichtige Überraschung: Es war uns gelungen, aus einem fortgeschrittenen Darmkrebs einen neuen Gastrin-Rezeptor zu isolieren – wir schöpften Hoffnung, dass es uns schliesslich als erster Arbeitsgruppe weltweit gelungen war, den seit 1994 gesuchten Gastrin-Rezeptor für Gastrin-Vorstufen zu isolieren. Bei dem von uns entdeckten Protein handelt es sich um eine Veränderung des von Kopin und Mitarbeitern beschriebenen Gastrin-Rezeptors für vollständig prozessierte molekulare Gastrinformen (Abb. 3). Die beiden unterscheiden sich in genau einem einzigen Baustein.
Der Gastrin-Rezeptor ist ein Eiweiss, das aus 452 Einzelkomponenten, den Aminosäuren, zusammengesetzt ist. Das Interessante an dieser Eiweisskette ist die Art ihrer Faltung: Das Protein schwimmt quasi in der Membran der Zelle und windet sich in sieben Schleifen durch diese hindurch (Abb. 5). Die Schleifen reichen teils in Richtung des Zellinneren und teils nach ausserhalb der Zelle (heptahelikale Faltung). Übrigens ist eine Vielzahl an Medikamenten, die wir gegenwärtig in der klinischen Praxis verschreiben, gegen heptahelikale Rezeptor-Proteine gerichtet; das Wirkprinzip ist also bestens bekannt und erprobt. Die Aminosäure in Position 286 des Gastrin-Rezeptors ist normalerweise ein Valin. In unserem Rezeptor ist es durch ein Phenylalanin ausgetauscht. Da wir diesen neuen oder auch „mutierten“ Gastrin-Rezeptor aus einer Darmkrebsprobe eines besonders aggressiv verlaufenden Tumors isoliert hatten, lag der Verdacht nahe, dass diese minimale Veränderung der Struktur Gastrin noch schädlicher als bekannt wirken lässt.
Dennoch musste erst einmal geklärt werden, ob es sich bei dem nur leicht veränderten Protein auch wirklich um den von Catherine Seva 1994 postulierten Rezeptor für unvollständig prozessierte Gastrinformen handelt. Um es vorwegzunehmen: Auch wir hatten dieses Protein nicht entdeckt, aber dafür war uns eine ganz andere interessante und bis dato ebenso einzigartige Entdeckung gelungen, die in der Funktion dieses nur leicht veränderten Rezeptors begründet liegt. Ein Rezeptor wird dadurch zum Gastrin-Rezeptor, dass er zumindest eine molekulare Gastrinform binden kann. Um zu testen, ob unser Rezeptor dies auch konnte, bauten wir unseren neuentdeckten Rezeptor mit einer aus der Gentechnologie und Molekularbiologie stammenden Methode in eine menschliche Darmkrebszellinie ein, die permanent in einer Zellkulturschale wachsen und darin untersucht werden kann. Unser Rezeptor konnte vollständig prozessiertes Gastrin genauso gut binden wie der von Kopin beschriebene. Zwischenzeitlich war es einer australischen Arbeitsgruppe um Prof. Graham Baldwin und Arthur Shulkes (Universität Melbourne) gelungen, hinreichende Mengen unvollständig prozessierter Gastrinformen im Reagenzglas zu synthetisieren. Die beiden erklärten sich bereit, für uns zu testen, ob unvollständig gespaltene Gastrin-Vorstufen ebenso gut an unseren neuen Rezeptor binden würden wie die vollständig prozessierten Formen. Zu unserer grossen Enttäuschung war dies nicht der Fall. Somit war klar, dass der Austausch einer einzelnen Aminosäure in einer Kette aus 452 nicht ausreicht, um einen Rezeptor derart zu verändern, dass auch andere molekularen Gastrinformen an ihn binden können.
Nichtsdestoweniger war uns im Reagenzglas aufgefallen, dass unsere menschlichen Darmkrebszellen mit dem neu entdeckten Gastrin-Rezeptor deutlich schneller wuchsen als diejenigen ohne ihn.

Minimale Veränderung mit dramatischem Effekt

Diese Beobachtung war jedoch für uns plausibel, weil der Patient, aus dessen Darmgewebe wir den Rezeptor isoliert hatten, eine besonders aggressive Verlaufsform hatte. Es lag also der Verdacht nahe, dass eine minimale Veränderung der normalen Struktur des Gastrin-Rezeptors seine Funktion dramatisch verändert hatte. Um das genauer zu untersuchen, mussten wir allerdings herausfinden, ob die Funde im Reagenzglas auch im lebenden Organismus reproduzierbar sind. Das ist nicht unbedingt der Fall: Zu unterschiedlich sind die Bedingungen in einer Zellkulturschale im Vergleich zu einer natürlich aufgebauten Darmschleimhaut. Daher wollten wir als nächstes überprüfen, ob unsere Beobachtung in einem geeigneten Tierexperiment nachzuvollziehen war. In Zusammenarbeit mit der Universität Kiel implantierten wir unsere gentechnisch veränderten Darmkrebszellen in Mäuse. Hierzu spritzen wir 100 Millionen Tumorzellen unter die Bauchdecke von abwehrgeschwächten sog. SCID-Mäusen (SCID = Severe Combined Immunodeficiency Disease). Ihr defektes Immunsystem machte das Experiment erst möglich, weil ein gesundes Immunsystem unsere Zellen – die ja fremde Zellen sind – abgestossen hätte. Nachdem die Tumorzellen bei den keimfrei gehaltenen Mäusen angewachsen waren, erhöhten wir bei den Tieren medikamentös die Gastrin-Spiegel im Blut, um das Wachstum der Zellen zu stimulieren. Unsere Beobachtung aus dem Reagenzglas wurde mehr als bestätigt: Die implantierten Tumorzellen mit unserem neuentdeckten Gastrin-Rezeptor wuchsen um 200 Prozent (!) schneller als mit dem von Kopin beschriebenen. Wir hatten erstmals gezeigt, dass minimale Veränderungen in einem scheinbar für Darmkrebs wenig wichtigen Protein dramatische Effekte haben. Doch leider ist auch dieses Experiment in gewisser Weise artifiziell, weil natürlich ein Darmkrebs nicht unter der Bauchdecke, sondern in der Darmschleimhaut und vorzugs-weise aus einem Polypen wächst.
Deshalb streben wir weiterhin den letztendlichen Beweis an, dass die Struktur des Gastrin-Rezeptors eine wichtige Darmkrebsdeterminante sein kann. Gegenwärtig nehmen wir einen weiteren Tierversuch vor, diesmal aber an gesunden Mäusen, die durch einen Griff in die Trickkiste der Molekularbiologie gentechnologisch so verändert sind, dass sie unseren neuen Gastrin-Rezeptor in genau den Zellen der Darmschleimhaut aufweisen, aus denen der Darmkrebs hervorgeht.

Griff in die Trickkiste der Molekularbiologie

Hierzu musste der Rezeptor zunächst in sog. embryonale Stammzellen der Maus eingebracht werden. Diese schwierige Aufgabe übernahm Prof. Dr. Karl-Heinz Herzig (Virtanen-Institut, Universität von Kuopio, Finnland). Inzwischen wurden die ersten Mäuse mit dem mutierten Gastrin-Rezeptor geboren. Die Aufzucht der Tiere läuft, um in den kommenden ein bis zwei Jahren zu prüfen, ob sie gehäuft an Darmkrebs erkranken werden. Anschliessend werden wir an diesen Tiere die Wirksamkeit einer Anti-Gastrin-Therapie beim Darmkrebs testen, einer Therapie also, die nur auf die Inaktivierung des Gastrin-Rezeptors zielt. Die Tiere werden uns nicht nur die einzigartige Chance bieten, die Wirksamkeit einer solchen Therapie in genau definierten Erkrankungsstadien schnell zu prüfen, sondern auch einen Eindruck zu gewinnen, ob schädliche Nebenwirkungen von einer molekularen Therapieform zu erwarten sind.
Sicherlich ist es noch ein langer Weg, bis eine derartige Strategie zur klinischen Praxis werden kann, aber „inmitten der Schwierigkeit liegt auch immer die Möglichkeit!“ (Albert Einstein)

PD Dr. Frank Schmitz, Prof. Dr. Wolfgang E. Schmidt, Medizinische Klinik I, St. Josef-Hospital, Klinikum der Ruhr-Universität Bochum

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