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Schmerzbewältigung in verschiedenen Kulturen

Ärzte müssen sich auf fremdländische Patienten einstellen

Wenn der türkische Patient auf die Frage, wo es weh tut, klagt, ihm tue alles weh, er sei schliesslich krank, kann das den deutschen Arzt leicht überfordern. Unterschiedliche Kulturen gehen mit Schmerz ganz unterschiedlich um. Wie sie das tun, hat PD Dr. Norbert Kohnen (Universität Düsseldorf) untersucht. „Der Umgang mit Schmerz ist abhängig von der Kontrollüberzeugung“, so sein Fazit beim Deutschen Schmerzkongress. Während Deutsche, Nordeuropäer und Amerikaner Rat beim Fachmann suchen und sich davon individuelle Kontrolle über den Schmerz erhoffen, sind die Menschen in Mittelmeerstaaten mit der Überzeugung aufgewachsen, nur die Familie könne helfen. Sie äussern ihren Schmerz daher ganz anders. „Deswegen ist bei der Untersuchung ausländischer Patienten eine transkulturelle Kompetenz gefordert“, so Dr. Kohnen. „Nimmt der Arzt auf diese Unterschiede keine Rücksicht, sind Stress und Hilflosigkeit die Folgen, die wiederum mit erhöhter Schmerzempfindlichkeit einhergehen.“

Kopf erkältet – ich drehe durch

Jeder Patient ist ein Informant. Ob seine Information ankommt, hängt vom Adressaten ab: Kommt ein deutscher Patient zum deutschen Arzt, liegen die Verhältnisse günstig: Untersucher und Informant haben den gleichen kulturellen Hintergrund und die gleiche Sozialisation. Bei beiden ähneln sich Erziehung, Werte, Normen, Symbole und Verhalten, ihre Assoziationen resultieren aus einem gemeinsamen Erleben gesellschaftlicher Strukturen wie Familie, Freundeskreis und Arbeitswelt. „Klagt der Patient beim Arzt darüber, dass ‚ihm eine Laus über die Leber gelaufen ist‘, dann wissen beide um den Sinn der Aussage“, erläutert Dr. Kohnen. Diese günstigen Verhältnisse finden sich bei der Vorstellung fremdländischer Patienten nicht. Klagt ein türkischer Patient darüber, dass „er seinen Kopf erkältet hat“, dann weiss der Arzt nicht, dass damit gemeint ist „Ich bin dabei durchzudrehen“. Auch verstehen Ärzte oft die Reaktion ihrer fremdländischen Patienten auf Krankheit und Schmerz nicht. „Besonders auffällig ist das bei den verschiedenen Schmerzäusserungen fremdländischer Patienten“, so Kohnen.

Iren ziehen sich zurück, Italiener äussern sich lautstark

Deutsche Ärzte haben aus ihrer soziokulturellen Sicht eine Vorstellung, welche Schmerzäusserungen und welche Schmerzbewältigungen angebracht und welche unangemessen sind. Ihre Erfahrungen beziehen sich in der Regel aber nur auf eine Ethnie, nämlich die eigene Bevölkerung. Diese einseitige Sicht kann zu Verständigungsschwierigkeit und Fehlurteilen bei der Behandlung ausländischer Patienten führen. Empirische Daten zeigen, dass jede Kultur gemäss ihrer eigenen Werte und Normen Schmerzbewältigungsstrategien entwickelt: Iren ziehen sich zurück, weil es unfein ist, Schmerz zu äussern; Nordamerikaner suchen so früh wie möglich den Arzt auf, schildern ihm die Beschwerden ohne emotionale Regung, damit er sofort eine rationale Behandlung einleiten kann; Juden erdulden den Schmerz, weil Gott ihnen so ein Zeichen geben will; Italiener äussern Schmerzen laut und deutlich, damit ihnen die familiäre Anteilnahme zukommt, Philippinos fügen sich fatalistisch in ihr Schicksal.

Individuell oder familienorientiert

„Man kann unterscheiden zwischen individualorientierten (Deutsche, Briten, Iren, Nordeuropäer und Nordamerikaner) und familienorientierten Gesellschaften (Italiener, Türken, Mittelmeervölker, Asiaten)“, erläutert der Forscher. Familienorientierte Gesellschaften sind überzeugt, Krankheit und Schmerz nur mit Hilfe der Familie bewältigen zu können. Patienten werden notwendigerweise von vielen Angehörigen begleitet. Sie haben eine hohe externale Kontrollüberzeugung, während Patienten aus individualorientierten Gesellschaften überzeugt sind, sich selbst helfen zu können, indem sie der Vernunft folgend fachärztlichen Rat einholen.

Ärzte müssen sich eindenken

Diese Bedingungen muss ein Arzt bedenken, denn das Verweigern der erlernten kulturellen Bewältigungsstrategien führt zu Hilflosigkeit, Verzweiflung, zu erhöhtem Stress und damit zu grösserer Schmerzempfindlichkeit. „Transkulturelle Kommunikation ereignet sich im Zuhören, Erfassen und Erlernen andersartiger, wenn auch laienhafter Erklärungsweisen von Krankheit und Schmerz“, unterstreicht Dr. Kohnen. Er fordert Ärzte auf, sich in die Erlebniswelten ihrer fremdländischen Patienten einzudenken. Viele in fremden Traditionen erzogenen Patienten haben z.B. die Vorstellung, ihre Krankheit sei ein individuelles Ereignis. „Sie verstehen deshalb nicht, dass sie nun eine Krankheit haben sollen, die mit ein und demselben Begriff belegt wird, die auch ihr Nachbar hat. Es ist doch ihre ganz individuelle Krankheit“, erläutert Dr. Kohnen. Individualisieren und nicht generalisieren heisse deshalb die Devise.

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