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Moderne Medizin macht Senioren zu Patienten

Die moderne Medizin macht alte Menschen, die körperlich noch fit sind, zu Patienten. Diese Kritik äußert Michael Oliver, emeritierter Kardiologe der University of Edinburgh http://www.ed.ac.uk, in einem persönlichen Kommentar im British Medical Journal http://www.bmj.com. Vielen alten Menschen würden Ärzte Medikamente für hohen Blutdruck, Diabetes oder hohes Cholesterin verschreiben, ohne die Folgen für die Betroffenen zu bedenken. Bestimmte Vorsorgebehandlungen könnten bei alten Menschen jedoch unangebracht oder sogar gefährlich sein. Diese übermäßige Diagnostizierung und Behandlung führt Oliver auf Naivität der Ärzte, auf übereifriges Befolgen von Richtlinien sowie auf hohe Bürokratie im Gesundheitswesen zurück. Die Medizin solle den tatsächlichen Nutzen der Behandlung von Risikosymptomen bei Menschen über 75 Jahren sorgfältiger und individueller beweisen als bisher und ihnen dadurch erlauben, sich im Alter gesund zu fühlen, so die Forderung des Mediziners.

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Die Notwendigkeit genauerer Differenzierung dieser Aussagen nach Krankheitsbildern sieht Katharina Pils, Vorstandsmitglied der österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie http://www.geriatrie-online.at. Bei bestimmten gesundheitlichen Zuständen sei bisweilen tatsächlich ein Diagnose-Hype zu beobachten, der auch übermäßige Behandlung nach sich ziehe. Etwa im Falle des Bluthochdrucks hält Pils eine strikte Einhaltung von Systole-Richtwerten von 120 mmHg im Alter für unsinnig, besonders wenn die Betroffenen Werte leicht darüber über lange Jahre gewöhnt seien. Anderswo ortet Pils jedoch eine Unterversorgung. „Osteoporose oder Inkontinenz wird bei den wenigsten älteren Menschen rechtzeitig erkannt, was bei fortgeschrittener Krankheit viel Leid und Kosten verursacht.“

In vielen Fällen ortet Pils fehlende ärztliche Kontrolle. „Alte Menschen nehmen ein Medikament oft 15 Jahre lang ein, ohne dass jemand prüft, ob es wieder abgesetzt werden kann.“ Das sei besonders bedenklich bei starken Mitteln wie etwa bei Cortison, das auf lange Zeit Haut und Knochen brüchig macht. „Die Medizin muss hier wachsamer sein und die Sinnhaftigkeit von Verordnungen besser evaluieren.“ In vielen Fällen würden Patienten allerdings vom Arzt verschriebene Mittel nach einmaligem Kauf auf eigene Faust absetzen, könne man aus Apothekerdaten schließen.

Als einen Hauptgrund für solches Verhalten alter Menschen sieht Pils die Verwirrung, die eine gleichzeitige Einnahme mehrerer Medikamente mit sich bringt. „Menschen sind mit den vielen gleichfarbigen Tabletten überfordert und wissen oft nicht mehr, welches Mittel für welche Beschwerden dient. Eine Vereinheitlichung nach Farben für bestimmte Zwecke wäre hier ein großer Fortschritt“, so die Wiener Gerontologin. Auch die Darreichungsform sei bei mehreren Medikamenten nicht seniorengerecht. „Alte Menschen können aufgrund ihrer geringen physischen Kraft bestimmte Packungen nicht öffnen oder Sprays nicht bedienen. Andere Medikamente bereiten etwa bei Schluckstörungen große Probleme.“ Zudem seien Medikamente für alte Menschen auch eine Kostenfrage. „Die Begleichung der Selbstbehalte mehrerer Mittel ist bei einer Mindestpension oft nicht möglich.“

Die fortschreitende Alterung der westlichen Gesellschaften stellt die Medizin vor neue Herausforderungen. „Wir haben es mit einer Situation zu tun, über die wir keinerlei Erfahrungen besitzen“, so Pils. Die durchschnittliche Dauer der in schwerer Krankheit verbrachten Zeit am Lebensende liege jedoch trotz Anstieg der Lebenserwartung unverändert auf zwei Jahren. „Ein wichtiges Ziel der medizinischen Bemühungen muss sein, die Lebensqualität des Patienten zu erhöhen, damit das Leben in guter Gesundheit verlängert wird.“ Das könne durch die Herangehensweise des Risiko-Assessments gelingen, in dem Strategien zu mehr individueller ärztlicher Betreuung alter Menschen gesucht werden, so Pils.

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